Wuppertal – Gedruckte Texte mögen langsam verschwinden – doch dank des Internets wird heutzutage gefühlt mehr gelesen denn je. Wie viel Zeit man doch sparen könnte, würde das Lesen schneller gehen! Genau das verspricht das Prinzip Schnelllesen:

Fast jeder soll seine Geschwindigkeit deutlich steigern können, ohne dass das Verständnis darunter leidet. Das kann funktionieren, sagen Experten – aber nicht alle Übungen sind sinnvoll.

«Für die meisten Personen halte ich eine anderthalb- bis zweifache Lesegeschwindigkeit ohne Verständnisverlust für absolut realistisch», sagt Ralph Radach, Professor für Psychologie an der Bergischen Universität Wuppertal, der über das Schnelllesen forscht. Das normale Lesetempo liege bei etwa 150 bis 250 Wörtern pro Minute, abhängig von der Komplexität des Textes. Nur: Bieten populäre Kurse und Apps auch das richtige Rüstzeug?

– Grundlage:Beim Lesen springt das Auge mehrmals pro Sekunde von Punkt zu Punkt, auf komplizierten oder unbekannten Wörtern oder Wortgruppen bleibt es länger hängen. Ein gewisser Anteil der Bewegungen geht auch zurück, etwa weil ein Aspekt nicht verstanden wurde (die sogenannte Regression). Und auch wenn man es nicht bemerkt: Eine Art innere Stimme spricht dabei den Text mit und ist an Worterkennung und Verständnisbildung beteiligt (Subartikulation). Im Hirn laufen verschiedene, miteinander verzahnte Prozesse dabei ab.

– Ansatz: In Schnelllese-Programmen sollen Leser häufig trainieren, mehr Wörter mit einem Blick zu erkennen, schneller weiterzuspringen, Rücksprünge zu vermeiden und die Subartikulation zu beschleunigen oder ganz abzustellen. Dazu können Strategien kommen, wie man mit bestimmten Textarten umgehen sollte.

Solche Übungen bieten Apps fürs Smartphone, Bücher, Videokurse und Seminare mit Trainern an. Rund 60 Kursanbieter gebe es derzeit in Deutschland, sagt Peter Rösler, Autor eines Sachbuchs zum Thema und Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Schnell-Lesen. Vor rund 15 Jahren sei es gerade eine Handvoll gewesen.

«Das Schnelllesen ist kein Fachgebiet wie Mathematik oder Physik, wo alles einigermaßen klar ist», warnt Rösler, der selbst ein Training anbietet. Im Umlauf seien viele Informationen, die nicht wissenschaftlich belegbar sind.

– Unnütze Übungen: Was genau ein Schnelllese-Training erfolgreich macht, sei noch nicht hinreichend erforscht. Skeptisch ist Forscher Radach bei Übungen, die ihm zufolge nur Symptome bekämpfen. Beispiel: Gute Schnellleser trainieren sich ein Verstehen des Textes beim ersten Lesen an und müssen seltener mit den Augen zurückspringen. Wer sich diese Regression aber schon zu Beginn des Trainings abgewöhnt, kann Textinformationen verpassen.

– Zielgruppe:Ein Schnelllese-Training lohnt sich vor allem für Menschen, die in Beruf oder Studium viel lesen müssen – aber natürlich lässt sich auch ein Roman beschleunigen. Viele Beamte, Juristen, Wissenschaftler, Studenten und Banker besuchten Kurse beim Anbieter Improved Reading, berichtet Geschäftsführer Peter Stonn. Ihnen gehe es häufig um das Durcharbeiten von Sach- und Fachliteratur oder langen Korrespondenzen. Auch Jonas Ritter von Ritter Speed Reading lehrt viele Akademiker und Forschende – niemand in seinen Kursen lese weniger als eine halbe Stunde am Tag beruflich, viele deutlich mehr.

– Kritik: Die Wissenschaft ist sich beim Thema Schnelllesen noch uneins, wie Radach sagt. Seine Forschung weist auf das Potenzial hin, eine Gruppe von nordamerikanischen Forschern kam allerdings jüngst in einer umfassenden Analyse zum Schluss, dass eine Temposteigerung mit einem Verständnisverlust einhergeht.

«Es gibt keine schnelle und einfache Vorgehensweise, die uns erlaubt, einen Text schneller zu lesen und dabei auf dem gleichen Niveau zu verstehen wie beim aufmerksamen Lesen», heißt es in der Studie. Wer allerdings in der Sprache versierter wird, könne auch schneller Text verarbeiten, etwa weil ihm seltene Wörter geläufig sind.

Wort für Wort in rasender Abfolge
Ein Ansatz zum Schnelllesen sind Programme, die nur einzelne Wörter in schneller Abfolge auf dem Bildschirm anzeigen. Die Idee nennt sich RSVP (englische Abkürzung für rapide aufeinanderfolgende visuelle Präsentation). Dabei soll die Anzeige so positioniert sein, dass das Auge stets auf den gleichen Punkt fokussiert ist. Solche Systeme gibt es unter anderem in bestimmten Apps und als Plugin für den Browser.

Leseforscher Ralph Radach ist skeptisch: Viele Untersuchungen hätten große Nachteile gezeigt. Die Anzeige beeinträchtige den Lesefluss und verhindere die Erfassung von Wortgruppen sowie den Blick zurück bei Verständnisproblemen. Für einfache, kurze Texte auf kleinen Bildschirmen (etwa einer Smartwatch) könnten die Systeme aber ihren Nutzen haben.

Fotocredits: Markus Scholz,Carola Plöchinger,Thomas Fackler, Aystetten,Lisa Koennicke
(dpa/tmn)

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